Literaturpreis 2014 für Herrn Dr. Medicus

 

Der Stiftungsrat unter Vorsitz von Wilhelm Hirschmann würdigt mit dem Preis das Gesamtwerk von Thomas Medicus. Der aus Gunzenhausen stammende und in Berlin lebende Journalist und Schriftsteller Thomas Medicus hatte 2004 mit „In den Augen meines Großvaters“ erstmals für größeres Aufsehen gesorgt. „Er schreibt Bücher, die sich erzählerisch und literarisch einfühlsam Sachthemen annähern. Dadurch gelingt es ihm, ein größeres Publikum für zeitgeschichtliche Themen zu interessieren“, so die Jury. Soeben ist sein Buch „Heimat. Eine Suche“ im Verlag Rowohlt Berlin erschienen.

 

Thomas Medicus, Jahrgang 1953, widmete sich in „In den Augen meines Großvaters“ dem Leben seines Großvaters mütterlicherseits, einem Generalmajor der Wehrmacht, der während des Zweiten Weltkriegs in Italien Schuld auf sich geladen hatte. Dabei handelte es sich um eine intime Suche nach den verlorenen Vätern und totgeschwiegenen Großvätern einer ganzen Generation. Die Süddeutsche Zeitung wertete das Buch als Beleg für eine neue literarische Art der Geschichtsschreibung. Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler lobte „In den

Augen meines Großvaters“ als einen „vorzüglichen Roman“.

 

Seine Biographie über „Melitta Gräfin Stauffenberg. Ein deutsches Leben“ (2012) besitzt keinen persönlichen Bezug, war jedoch der bewegende Versuch einer literarischen Annäherung an eine historische Person. Die Presse, etwa die Süddeutsche Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung, Die Welt sowie zahlreiche Rundfunksender feierten das Buch. Die jüngste Veröffentlichung „Heimat. Eine Suche“ wurde bereits in der Recherchephase mit einem Reisekostenzuschuss durch die Wilhelm und Christine Hirschmann Stiftung gefördert. Nach Kenntnisnahme der Endfassung des neuen Buches „Heimat“ Ende des Jahres 2013 beschloss die Jury,  Medicus‘ Gesamtwerk auszuzeichnen.

 

 „Heimat. Eine Suche“ ist am 7. März erschienen. In diesem Buch spielt keine Einzelperson, sondern eine ganze Stadt die Hauptrolle. Medicus geht in der fränkischen Kleinstadt Gunzenhausen, die er als Neunzehnjähriger verließ, auf literarische Spurensuche.

 

Stilistisch und dramaturgisch elegant verwebt der Autor persönliche Erinnerungen mit der lokalen Geschichte, die jedoch eine größere zeitgeschichtliche Bedeutung besitzt, als man es von einer fränkischen Kleinstadt erwarten würde. Medicus entdeckt erst Jahrzehnte nach seinem Weggang, dass in Gunzenhausen eines der ersten Judenpogrome des nationalsozialistischen Deutschen Reiches stattgefunden hatte. Die Nachricht von den blutigen Unruhen mit zwei Toten schaffte es bis in die New York Times. Medicus‘ Großvater väterlicherseits obduzierte als Arzt die Leichen der beiden toten Juden, von denen der eine ermordet wurde und der andere aus Angst vor dem Mob Selbstmord begangen hatte. Der Verfasser erinnert sich an seine Großmutter, die an langen Nachmittagen in der Küche mit leiser Stimme von den Juden erzählte, die in direkter Nachbarschaftgewohnt hatten. Was das Kind nichtverstand, versteht der Erwachsene erst ein halbes Jahrhundert später.

 

Als Medicus davon erfährt, dass einer der Helden seiner Jugend, der amerikanische Schriftsteller J. D. Salinger („Der Fänger im Roggen“) im Jahr 1945 sechs Monate in Gunzenhausen lebte und dort mit Entnazifizierungsmaßnahmen befasst war, ist das für den Schriftsteller Anlass, zu seinen Wurzeln zurückzukehren.

 

„Heimat. Eine Suche“ ist eine Reflektion über eine beengte Kleinstadt, deren Bewohner sich zuletzt als gar nicht so engstirnig erweisen, ist ein Rückblick auf eine bundesdeutsche Kindheit in den fünfziger und sechziger Jahren. „Was ist Kindheit normalerweise anderes als die Erinnerung an bedeutungslose Dinge von lebenslang großer Bedeutung, ein wenig weißer Staub im Hof des Kindergartens, die Maserung von Bruchsteinfugen, die bergan führen, die Weißwandreifen am Auto des Vaters, (…) das borstige Haar meiner Großmutter“, räsoniert Medicus in seinem Buch. Für seine Generation aber war Kindheit doppelbödig, eine vom bundesrepublikanischen Wirtschaftswunder geprägte Zeit im langen Schatten des Nationalsozialismus. Thomas Medicus gelingt es in „Heimat. Eine Suche“ eindrucksvoll und sprachlich souverän, ein spezifisches Generationenschicksal darzustellen.